Künstliche Intelligenz (KI) ist in aller Munde. Nun hat sie auch in die Personaldiagnostik Eingang gefunden. Da Unternehmen zunehmend starkem Kosten- und Effizienzdruck ausgesetzt sind, sind HR-Abteilungen und die HR-Prozesse ebenfalls stark davon betroffen. Folglich ist auch hier die Aussicht auf Kosteneinsparungen und Effizienzgewinne durch den Einsatz von KI verlockend. Die Vielfalt der angebotenen KI-Produkte ist gross: Es werden Programme angeboten, die in den sozialen Medien nach geeigneten Bewerbern suchen. Andere analysieren die geschriebene Sprache im Anschreiben der Bewerber oder Aussagen von Bewerbern in Einstellungsinterviews, um auf Persönlichkeitseigenschaften zu schliessen. Vor allem bei Grosskonzernen liegt der Ansatz im Trend, KI-unterstützte Video-Interviews zu führen und mittels KI Persönlichkeitsprofile zu erstellen. Diese Praxis löst jedoch teils heftige Reaktionen aus – sowohl auf Arbeitgeber- als auch auf Bewerberseite.

Unternehmen zeigen sich zwar begeistert über die Möglichkeit, mit minimalem Aufwand eine systematische Vorselektion von Bewerbern zu treffen. Jedoch befürchten einige, damit den persönlichen Bezug zu Bewerbenden zu verlieren und gleichzeitig für Bewerbende weniger attraktiv zu werden. Besonders in der Schweiz, wo sich der Fachkräftemangel weiter akzentuiert, fragt man sich, ob es gelingen kann, hochqualifizierte Spezialisten auf diese Weise anzuwerben. Denn oft geht es auch darum, dass sich das Unternehmen bei potenziellen neuen Mitarbeitenden «bewirbt». In unseren Führungskräfte- und Karriere-Coachings für hochqualifizierte Personen erfahren wir wiederholt, dass diese ihre Bewerbungen zurückgezogen haben, als potenzielle Arbeitgeber sie zu solchen KI-unterstützten Video-Interviews oder gar zu einem vollständig digitalen Vorselektionsverfahren einluden. Sie möchten nicht für eine Organisation tätig sein, die Bewerbern keine persönliche Wertschätzung entgegenbringt. Auch zweifeln sie daran, dass KI die relevanten Erfolgsfaktoren in ihrer hochkomplexen Tätigkeit erkennt, geschweige denn korrekt beurteilt. Da in Bezug auf die Möglichkeiten und Grenzen von KI in der Personaldiagnostik grosse Informationsasymmetrien herrschen, ist es mir ein Anliegen, Licht in dieses hochaktuelle Thema zu bringen.

«Die Grenzen von KI liegen bei der Beurteilung berufsrelevanter Kompetenzen von Bewerbern.»

Nach intensivem Austausch mit führenden Diagnostikern und Forschern auf dem Gebiet stelle ich fest, dass KI rekrutierenden Unternehmen wertvolle Unterstützung bietet bei 1) der Entwicklung von Anforderungsprofilen, 2) der Vorauswahl von CVs, 3) der Auswertung von unstrukturierten Daten (freie Antworten von Bewerbern) hinsichtlich einfacher Kriterien wie der Big Five Persönlichkeitsfaktoren Neurotizismus, Extraversion, Offenheit, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit, 4) der Interviewführung und 5) der Evaluation von Einstellungsentscheidungen. Besonders beeindruckt mich, wie gut KI in der Lage ist, die Big Five mit der Auswertung von Antwortverhalten in Interviews zu erfassen und zu beurteilen. Da Bewerber typische Fragebogen zur Persönlichkeitsanalyse einfach verfälschen können, bieten KI-gestützte Interviews mit KI-Auswertung eine attraktive Alternative. Hierfür gibt es raffinierte Algorithmen, die nicht den üblichen menschlichen Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen (Recency-, Primacy-, Halo-Effekt usw.) unterliegen. Trotzdem werten sehr fähige Assessoren das Antwortverhalten von Bewerbern im Hinblick auf die Big Five noch genauer aus als KI-Analyseverfahren, sagt Richard Justenhoven, der an der Freien Universität Berlin zum Thema KI und Diagnostik forscht.

Die Grenzen von KI liegen bei der Beurteilung berufsrelevanter Kompetenzen von Bewerbern. Aktuell existiert kein KI-Verfahren, das in der Lage wäre, Kompetenzen wie Führungskompetenz oder Überzeugungskraft zu erfassen oder im Hinblick auf ein definiertes Anforderungsprofil auszuwerten. Der Grund liegt darin, dass das Verhalten, das z.B. hohe Führungskompetenz ausmacht, sehr situativ von der Führungskraft, den Geführten, der Situation und der Funktion abhängt. Um alle diese Aspekte adäquat zu erfassen und zu bewerten, ist ein hochkomplexer Algorithmus vonnöten, den es zu entwickeln und für ein spezifisches Jobprofil zu testen gilt. Selbst bei den aktuellen Fortschritten von KI würde die Entwicklung eines solchen Verfahrens für nur ein Jobprofil mehrere Jahre dauern, was weder für Anbieter noch für Abnehmer sinnvoll ist. Deshalb macht es nach wie vor Sinn, mit strukturierten kompetenz- und verhaltensbasierten Interviews oder Assessment-Center-Verfahren zu arbeiten, wenn es um die Beurteilung und Selektion von Schlüsselpersonen und Führungskräften geht.

Für mich ist klar, dass Unternehmen mit vielen Vakanzen, bei denen sie typischerweise mit Massenbewerbungen rechnen, den Einsatz von KI-gestützten Verfahren für die Vorselektion prüfen sollten. Denn so wird der Gesamtprozess deutlich effizienter, was sich für die Bewerber und das Unternehmen positiv auswirkt. Kritischer beurteile ich den Einsatz von KI-gestützten Interview-Verfahren und rate Personalleitenden vom alleinigen Einsatz ab. Handelt es sich um Fragebogen zur Persönlichkeitsanalyse, so sind diese oft für Verfälschungen anfällig und sollten von versierten Diagnostikern hinsichtlich Qualität und Aussagekraft hinterfragt werden. Werden Entscheidungen allein auf Basis solcher Verfahren getroffen, kann dies attraktive Bewerber abschrecken und vor allem bei abgewiesenen Bewerbern Unmut erzeugen. Bewerber sind neben den Mitarbeitenden wichtige Botschafter für das Unternehmen im Markt. Negative Erlebnisse im Bewerbungsverfahren können somit das Image des Unternehmens beeinträchtigen. Keine Antwort auf Bewerbungen zu erhalten oder ein unstimmiger, einseitiger Prozess, bei dem der Bewerber deutlich weniger über seinen potenziellen Arbeitgeber erfährt als umgekehrt, wird in der Schweizer Kultur kritisch bewertet – selbst wenn KI-Lösungen modern und effizient sind und durchaus ihren Reiz haben.