Kürzlich berichtete mir eine Klientin, die erst seit wenigen Wochen eine Führungsfunktion ausübt, dass ihr die Vielfalt der Zukunftsszenarien, die unter dem derzeit oft zitierten VUCA-Begriff diskutiert werden, Orientierungsschwierigkeiten in Bezug auf ihr eigenes Führungsverhalten bereitet. Das Coaching-Gespräch führte uns zur Frage: Welche Führungskompetenzen werden in Zukunft relevant sein? Diverse Studien zur Arbeitswelt und Industrie 4.0 befassen sich mit genau dieser Frage. Sie zeigen auf, dass neuartige Kompetenzen wie Transparenzorientierung und Heterarchiefähigkeit sowie klassische Kompetenzen wie Kommunikations-, Veränderungs- und Innovationsfähigkeit zu den meistgenannten Schlüsselfähigkeiten des digitalen Zeitalters gehören. Dagegen werden Kompetenzen wie die beidhändige Führung (Ambidextrie), Charisma oder soziale Verantwortung seltener genannt. Vordenker suchen Antworten auf die wichtige Frage, wie sich Führungskräfte auf die Integration von Mitarbeitenden und Systemen künstlicher Intelligenz (KI) vorzubereiten und sie umzusetzen haben. Im Coaching mit meiner Klientin kam dabei die Frage auf: Können digitale Systeme menschliche Führungskräfte ersetzen?
Man stelle sich vor: Projektmitarbeitende erhalten ihre Aufgaben von einer virtuellen Projektleitung zugeteilt. Oder, die virtuelle Führung ermittelt durch KI die rational intelligentesten Argumente und überzeugt respektive motiviert damit Mitarbeitende zur Ausführung einer spezifischen Aufgabe. Damit würden grundlegende Führungsfähigkeiten wie die Auftragserteilung und die rationale Überzeugung von einer virtuellen Führungskraft übernommen. In Zeiten von Alexa und Siri und zwei Jahrzehnte nach Deep Blue sind dies durchaus denkbare Szenarien. Werden es die von KI gesteuerten Systeme schaffen, auch zukünftig essentielle und unbestrittene Führungskompetenzen wie Entscheidungsvermögen, Change Leading, emotionale und kognitive Perspektivenübernahme, Überzeugungsfähigkeit oder Kommunikation besser zu beherrschen, als Menschen? Wird KI dadurch zur stärksten Mitbewerberin von Top-Talenten und etablierten Managern oder gar zur Karrierenbarriere? Eine klare Antwort auf diese Fragen ist heute ohne evidenzbasierte Forschung zu gewagt. Woran kann sich aber eine Führungskraft bei der Entwicklung ihrer Führungskompetenzen orientieren angesichts der Unsicherheiten, welche KI, IoT, VUCA, Agilität, CPS, Holacracy und weitere mit sich bringen?
”Nach meinem Studium förderte, forderte und motivierte meine Vorgesetzte mich, mit ihrer charismatischen, zuversichtlichen Ausstrahlung. Sie übertrug Aufgaben an mich, blieb im Dialog und zeigte mir auf, wie ich Herausforderungen meistern kann. Heute als Abteilungsleiterin mit über 80 Mitarbeitenden denke ich oft an sie zurück, denn sie war ein bedeutendes Role Model für mich.”
Leiterin Customer Care, Versicherung
Für Führungskräfte gibt es gute Nachrichten: Es ist nicht abzusehen, dass digitale Systeme gute menschliche Führungsarbeit ersetzen. Eine grundlegende Annahme für diese Behauptung liegt darin, dass es auch in Zukunft Menschen gibt, die einer beruflichen Tätigkeit nachgehen, und dass sich die Psychologie der Menschen evolutionär nicht grundlegend verändert – vorausgesetzt, die Potenziale von cybernetic organisms (Cyborgs) und Gentechnik kommen nicht systematisch und flächendeckend, sondern nur unter ethisch verantwortbaren Bedingungen zum Einsatz. Führungspersonen dürfen davon ausgehen, dass Menschen heute wie morgen den klassischen, gut dokumentierten psychologischen Bedürfnismodellen folgen. Mitarbeitende werden im Normalfall weiterhin ein Bedürfnis nach Anschluss, Entwicklung, Orientierung und Selbstbestimmung behalten. Um solche Bedürfnisse zu erkennen, wird es mehr denn je menschliche Fähigkeiten brauchen. Damit es Führungskräften gelingt, Menschen auf einen gemeinsamen Weg zu bringen und sie auf ein übergeordnetes Ziel auszurichten, werden sie auch in der Arbeitswelt 4.0 ihren Mitarbeitenden einen individuell abgestimmten Orientierungsrahmen geben und sie mittels persönlicher Inspiration, dem Menschen eigenen Charisma und essentiellen Sozialkompetenzen wie z.B. Wertschätzung, aufrichtiges Einfühlungsvermögens, der Fähigkeit, Vertrauen zu gewinnen, ganzheitliches Überzeugungsvermögen und unternehmenspolitisches Geschick begegnen und damit menschenorientiert führen. Zudem gilt es auch in Organisationen der Arbeitswelt 4.0 unpopuläre Entscheidungen zu treffen, die weiterhin Menschen und nicht digitale Systeme verantworten. Auf den Punkt: digitale Systeme werden die Führung von Menschen nie vollständig ersetzen. Die Komplexität der Führungsherausforderungen steigt mit der Komplexität des Marktumfeldes. Das Spektrum der Führungskompetenzen der Zukunft wird breiter und variabler. Beidhändige Führung greift zu kurz, Vielhändigkeit wird gefragt sein. Führungspersonen müssen lernen, sich situativ flexibler zu bewegen. Sie sind gut beraten, den menschenorientierten Akzenten in Zukunft noch mehr Beachtung zu schenken.