Bauchgefühl im Bewerberinterview

Das persönliche Bewerberinterview – vor Ort oder virtuell – ist nach wie vor mit Abstand das am häufigsten eingesetzte Instrument der Personalauswahl. Die höchste Aussagekraft bezüglich der beruflichen Leistungsfähigkeit einer Person haben strukturierte Interviews, in denen vorab festgelegte, anforderungs- und verhaltensbezogene Fragen gestellt und über präzise Rückfragen systematisch vertieft werden. So erhalten Interviewer ein fundiertes und realistisches Bild der berufsrelevanten Kompetenzen einer Person –  ganz ohne «Brain Teaser» oder bizarre Fragen nach Monopoly-Strategien und Lieblingsgemüse.

Wenn ich Führungskräfte und HR-Professionals in der Durchführung von Interviews trainiere, kommt meist sehr schnell die Frage auf, wo bei einem strukturierten Vorgehen noch Platz für Aspekte wie Bauchgefühl, Intuition und Menschenkenntnis sei. Tatsächlich ist das Bauchgefühl für viele ein zentrales – wenn nicht gar das wichtigste – Entscheidungskriterium in der Personalauswahl. Und doch spricht Einiges dagegen, sich zu sehr auf das Bauchgefühl zu verlassen.

Erstens ist es anfällig für Urteilsfehler, also unwillkürliche Verzerrungen unserer Wahrnehmung, die uns auf subtile Art und Weise zu falschen Schlüssen verleiten. So neigen wir beispielsweise dazu, attraktive Menschen für überdurchschnittlich intelligent zu halten oder Personen, die uns ähnlich sind, grundsätzlich wohlwollender zu beurteilen. Dadurch sammelt ein adretter Bewerber, der auch noch zufällig dasselbe Hobby wie der Interviewer hat, quasi automatisch Extra-Punkte. Ob diese Eigenschaften jedoch auf die für die zu besetzende Position definierten Fähigkeiten einer Person einzahlen, ist fraglich. Diese Problematik kann im virtuellen Setting sogar noch verstärkt werden, etwa wenn von einer schlechten Bild- und Tonqualität oder vom Inhalt des Buchregals im Hintergrund auf die Kompetenzen des Bewerbers geschlossen wird.

«Hätte ich mich nur auf mein Bauchgefühl verlassen, hätte ich einen sehr gut geeigneten Bewerber vorschnell abgelehnt.»

Führungskraft, öffentliche Verwaltung

Zweitens ist Bauchgefühl – per Definition – subjektiv. Das macht es schwierig, Entscheidungen gegenüber Kandidaten, Kollegen oder Mitarbeitenden zu begründen und fördert den Anschein von Willkür und Intransparenz. Zugleich sind Beurteilungen abhängig von der Person des Interviewers und dessen Tagesform. Eine Trainingsteilnehmerin erzählte einmal, wie sie ein Vorstellungsgespräch vorzeitig beenden wollte, weil ihr der Kandidat «irgendwie überhaupt nicht passte». Ihre Co-Interviewerin teilte diese Ansicht nicht und ignorierte das vereinbarte Abbruchsignal. Glücklicherweise, denn im weiteren Verlauf überzeugte der Kandidat, wurde eingestellt – und entwickelte sich in sehr kurzer Zeit zu einem wichtigen Leistungsträger im Team. Im Rückblick führte die Trainingsteilnehmerin ihr vorschnelles Urteil übrigens darauf zurück, dass sie an jenem Tag zeitlich unter grossem Druck stand. Fast hätte dies dazu geführt, dass eine geeignete Person abgelehnt worden wäre.

Drittens bezieht sich Bauchgefühl nur in den seltensten Fällen auf konkrete berufliche Anforderungen. Häufig reflektiert es stattdessen, wie sympathisch uns eine Person ist oder wie kompatibel sie zu einem selbst, dem Team oder der Kultur wahrgenommen wird. Das mag zwar für ein konstruktives Miteinander wichtig sein, sagt aber beispielsweise nichts darüber aus, wie lösungsorientiert eine Person unter Zeitdruck arbeitet, wie systematisch sie komplexe Probleme löst oder wie durchsetzungsstark sie in Verhandlungssituationen ist.

Sollte man sein Bauchgefühl im Interview also vollständig ausblenden? Nein, das wäre sicherlich übertrieben. Allerdings sollte man klar differenzieren, wann und wofür man auf seine Intuition hören sollte. Hierzu empfehle ich eine konsequente Zweiteilung des Interviews.

In einem freien Gesprächsteil verschafft sich der Interviewer zunächst ein ganzheitliches Bild über die Kandidatin/den Kandidaten. Hierzu gehört auch die Einschätzung, wie gut die Person ins Team oder zur Organisation passt. Dabei können Intuition und Bauchgefühl gute Dienste leisten. Allerdings sollte man auch hier selbstkritisch bleiben und eigene Einschätzungen hinterfragen. Ich persönlich notiere mir meine Ersteindrücke und meine intuitiven Einschätzungen so, dass ich sie im weiteren Gesprächsverlauf stets vor Augen habe und immer wieder kritisch hinterfragen, ergänzen oder revidieren kann.

Im zweiten, strukturierten Teil des Interviews überprüft der Interviewer indes systematisch, wie gut die Bewerberin/der Bewerber die vorgängig im Anforderungsprofil definierten, erfolgskritischen Fähigkeiten der anvisierten Aufgabe abdeckt. Hierzu holt er konkrete Verhaltensbeispiele ab, schält Fakten heraus und nimmt möglichst objektive Beurteilungen vor. Bauchgefühl und Intuition sollten dabei nicht interferieren und in den Hintergrund treten. Sie können jedoch auch hier von Nutzen sein. Hinterlässt nämlich die Antwort eines Kandidaten ein seltsames oder merkwürdiges Gefühl, sollte das als Anlass genommen werden, mit systematischen Nachfragen noch weiter in die Tiefe zu gehen. Definiert man im Vorfeld klare Anforderungen, leitet daraus konkrete Fragen ab und teilt die Evaluation der Antworten zwischen HR und Linie auf, sind eine objektive Beurteilung und ein zielführender Entscheid gewährleistet.

Auf den Punkt: Bauchgefühl und Intuition können im Interview helfen , die zwischenmenschliche Passung zu beurteilen oder im richtigen Moment systematisch in die Tiefe zu gehen. Sie sollten aber nicht mit einem strukturierten, kompetenzorientierten Ansatz interferieren – und diesen schon gar nicht ersetzen.

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